Zum heiligsten Berg der Welt (1937) by Tichy Herbert

Zum heiligsten Berg der Welt (1937) by Tichy Herbert

Autor:Tichy, Herbert [Tichy, Herbert]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-06-02T16:00:00+00:00


GURLA MANDATA

Ohne allzu viele Mühe trieben wir zwei Kulis auf, die das schwerste Gepäck bis nach Gunj schaffen sollten. Der Aufenthalt in Garbyang, das auf der Hauptroute nach Tibet liegt, schien uns auf die Dauer doch etwas zu gefährlich; wenn wir wirklich noch einige Tage auf besseres Wetter zu warten hatten, so sollten wir das lieber in Gunj tun. Wir wollten in Garbyang weiter kein Aufsehen erregen und jede Frage vermeiden; so verließen wir den Ort schon kurz nach Morgengrauen. Dieser Morgen wird mir unvergeßlich bleiben! Während dreier Tage hatte es geregnet und in höheren Lagen geschneit. Nun brach der Tag wolkenlos an. Wir wanderten durch dichte Nadelwälder, die Berge, die den Weg zum Lipu-Lek-Paß umgrenzen, leuchteten in weißem Neuschnee. Aus Nepal, dem verschlossenen Himalayareich, ragte der 7362 Meter hohe Api zum Himmel. Wir waren kaum höher als 3000 Meter, noch 4000 Meter höher schwebte der königliche Gipfel über uns im Himmel. Wir mußten den Kopf weit in den Rücken legen, wenn wir den Gipfel sehen wollten, so nah und hoch war er über unserem Standort.

Zu Mittag erreichten wir Gunj. Nan Singh kam uns freudig entgegen, schwenkte eine Flasche Reiswein verheißungsvoll in der Hand und hieß uns mit einem kleinen Trunk herzlichst willkommen. Er wollte uns Kartoffeln und Mehl schenken, er wies uns auf seinem Grund einen schönen Zeltplatz an, er war zu allem bereit, um uns das Leben zu verschönern. Nur vom Aufbruch wollte er einstweilen noch nichts wissen, bevor er seine Äcker nicht bestellt hatte. Da sich das Wetter nachmittags schon wieder verschlechterte, hatten auch wir keine Eile, die bewohnten Gegenden gegen die menschenleeren, augenblicklich sicher tief verschneiten Himalayapässe zu vertauschen. Die nächsten Tage regnete es fast ständig, die Temperatur lag kaum über dem Nullpunkt, und im Zelt war es kalt, feucht und ungemütlich. Ich lag im warmen Schlafsack und las Rilkes wunderbare „Briefe an einen jungen Dichter“, die mir eine wohlmeinende Freundin nach Indien geschickt hatte, „als einziges, das die Konkurrenz mit den großen Eindrücken aufnehmen kann, die Dich jetzt umgeben“. Es war schön, den Gedanken einer einsamen, großen Seele zu lauschen, hier in der Einsamkeit und Größe des Himalaya. Es waren lange und besinnliche Stunden, die ich in Gunj verbrachte. In diesen Tagen war ich in Gedanken viel in der Heimat, es war Pfingsten geworden. Ein nachdenklicher Pfingstsonntag voll Regen, Nässe und dem Glück der Einsamkeit. An jenem Pfingstsonntag habe ich auch diesen Brief in mein Tagebuch geschrieben:

Brief an Dich.

Vielleicht denkst Du jetzt gerade an mich. Weißt du noch, es ist jetzt gerade ein Jahr her, seit wir uns kennenlernten. Wir fuhren damals hinaus in den lachenden Frühling. Du saßest im blühenden Gras, Dein frecher, lieber Mund lachte und sprach nette Worte, und Frühling und Leben war um uns. Vielleicht denkst Du heute an mich, vielleicht sitzt Du wieder irgendwo in einer blühenden Wiese und blickst, die Hände verschränkt, in die Weite. Ein wenig Sehnsucht nach der Ferne hast Du ja immer gefühlt, und jetzt beneidest Du mich um meine erfüllte Sehnsucht, um meine einsamen Zeltnächte im Himalaya.



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